Furtwänglers Vermächtnis

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„Nicht der gute Wille tut’s – wenn es nach dem ginge, könnte jeder Konservatorist „Diener am Werk“ sein -, sondern die geistigen Voraussetzungen. Nicht das Können, das Wollen, sondern das Sein.“
Furtwängler, aus den Kalendern, 1935

 

 

Sie verzeihen mir sicher den etwas pathetischen Titel. Bei einem Spaziergang in Basel bin ich in einem Quartier auf einen Haufen Bücher (Papierabfall!) am Strassenrand aufmerksam geworden – stets das beste Mittel mich den Bus oder Zug verpassen zu lassen. Überraschenderweise fand sich unter vielem Schund ein Band nachgelassener Schriften von Willhelm Furtwängler.


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In allen Berichten und Büchern wird von den besten Autoren übereinstimmend kolportiert, dass Furtwängler zweifellos einer der grössten Dirigenten des Jahrhunderts war, als Komponist und Schriftsteller leider aber weit hinter seinem Können als Orchesterleiter zurück geblieben sei. Gut, endlich die Gelegenheit, dies in gedruckter Form zu überprüfen. Unterdessen habe ich mich auch mit seinen anderen, zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsätzen beschäftigt. Vorliegender Artikel befasst sich jedoch nur mit dem letzen Band: Den Aufsätzen, Kalenderblättern, Bemerkungen und Gedanken, welche nicht veröffentlicht wurden und sich in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung befinden. Der letzte Schliff der Formulierung fehlt, die „Essentials“ kommen aber immer durch.

Wenn wir schon dabei sind, einige Bemerkungen im Voraus.
1. Furtwängler war m. E. bei weitem nicht ein schlechter Komponist,
ich habe für seine 2.Sinfonie eine ausgesprochene Vorliebe.


Dass ihm gemäss Boulez (1977) „die Einfälle eines Komponisten nicht zur Verfügung standen“, sollte allein mit dieser Sinfonie endgültig vom Tisch geräumt sein, auch wenn sein Stil natürlich nicht gerade modern genannt werden kann.

2. Er verstarb 1954, für meine Generation ist es unterdessen schwer, sich ein Bild über sein Können als Dirigent zu machen. Viele seiner Aufnahmen beeindrucken (nicht nur) mich nicht so sehr. Die ungeheure Ausstrahlung von welcher alle berichteten, die ihn „live“ erlebten, hat – wie bei vielen anderen auch – die Zeit nicht überdauert. Für alle eingefleischten Fans: Bitte verzeihen Sie mir den Mangel an Einfühlungsvermögen, der Verlust ist mein!

Daher möchte ich mich heute in aller Kürze zwei seiner Schriften zuwenden, vermutlich der unbekannteste und am meisten ignorierte Teil seines grossen Lebenswerks. Naheliegenderweise handelt es sich um die Artikel über Probleme des Dirigierhandwerks.

„Probleme des Dirigierens“ (1929) /
„Vom Handwerkszeug des Dirigenten“ (1937)

Viele Menschen fragen sich oft, wie es möglich ist, dass ein Orchester in die Noten schaut und trotzdem dem Schlag des Dirigenten folgen kann.  Furtwängler erklärt seine Technik aus der Kunst der Vorbereitung eines Schlages mit dem Taktstock. Der Niederschlag an sich zählt nicht! Man kann mit gutem Recht behaupten, dass Furtwängler weitgehend ohne klare Schläge ausgekommen ist. Für ein perfektes Zusammenspiel bedurfte er auch nicht mehr Proben als andere. Erfahrene Orchestermusiker werden gerne bestätigen, dass oftmals mit einem Heben der Hand bereits alles klar ist. Das technische 1-2-3-4 mit demonstrativen Einsätzen der Instrumente bringt zwar die Sache zusammen, killt aber weitgehend die Musik durch Unterteilung und führt zu einem Klang, den Furtwängler als „scheusslich direkt“ bezeichnet hat.

Wie oft sass ich bereits im Konzert, und es war alles so „scheusslich direkt“…

Was das Proben betrifft: Einen grossen Einfluss (Handwerk vorausgesetzt!) spielt sich in der überzeugenden Kenntnis einer musikalischen Partitur ab. Gerade erst kürzlich hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, einen schlampigen „Sacre du Printemps“ live anzuhören, bei dem der Dirigent den Kopf mehr in den Noten als die Noten im Kopf hatte. Hingegen schaffte Seiji Ozawa es beispielsweise, mit den lediglich regulär vorgesehenen Proben eine der vertracktesten Partituren des Jahrhunderts perfekt einzustudieren. György Ligetis San Francisco Polyphony.

Der Komponist war zutiefst beeindruckt, die Probezeit reicht bei einem hervorragend vorbereiteten Dirigenten ja durchaus!


„Vor dem Orchester:
Beim Sprechen ansehen!
Ruhig sprechen!
Alles, was verlangt wird, ganz verlangen!
Alles so kurz wie möglich sagen!
Stets direkten, klaren Blick!
Wenig lachen.
Stets aktiv, nie beleidigt.
Im Persönlichen nicht nachgeben.“
Furtwängler 1930

In einigen anderen Fällen sind seine Aussagen heute durchaus streitbar, z.B. bezüglich des Verhältnisses zwischen Konzert und Aufnahme.
Furtwängler vertritt natürlich den „alten“ Standpunkt, dass Live-Aufführungen durch nichts zu ersetzen wären. Diesem bis 1970 doch noch nachvollziehbaren Standpunkt kann ich heute nicht mehr zustimmen. Überwältigende Gegenargumente lieferte unter anderen insbesondere Glenn Gould. Bitte kommen Sie mir nicht mit Natürlichkeit und Lebendigkeit des Klanges. Eine vibrierende Lautsprechermembran ist genauso natürlich wie ein spielendes Orchester auf der Bühne, Klaviere und CD Player wachsen beide nicht auf Bäumen und ein Pianist ist aus der Sichte eines Lemurs auf Madagaskar gesehen genauso absurd wie ein Elektrotechniker oder ein Banker… Musik ist eine Kunst und hat viele Facetten, die Zeit findet immer wieder neue Lösungen für die ästehtischen Probleme der Schallübermittlung.


„Das Gefühl, dass die Form etwas ausdrücken müsse, ist ebenso verloren gegangen, wie dass etwas Ausgedrücktes Form haben müsse. Es ist die Fähigkeit zu formen, die den Künstler macht, nicht Jugend oder Alter.“
Furtwängler 1934


Tun Sie mir den Gefallen, und schauen Sie sich als Illustration den Ausschnitt von Furtwänglers Probe von Schuberts „Unvollendeter“ an.
„Bitte recht legato“